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1945: Mit dem Autobus von Leipzig nach Wiesbaden – Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels wird 200 Jahre alt (1)

Captain Heimoff mit Bruno Hauff vor dem Bus nach Wiesbaden
Captain Heimoff mit Bruno Hauff vor dem Bus nach Wiesbaden. Abb. aus Christian Staehr: Spurensuche, Stuttgart: Thieme 1986

Die korrekte Erscheinung des Zivilisten Bruno Hauff mit Anzug und Krawatte täuscht: Er ist auf der Flucht. Mit seiner engsten Familie und begrenztem Gepäck – die Gebäude seines Georg Thieme Verlags in Leipzig sind fast vollständig zerstört – wagt er die Übersiedlung aus der Buchhandelszentrale in den Westen, um dort seinen Verlag mit dem Flaggschiff Medizinische Wochenschrift wiederaufzubauen. Wohin die Reise ging, erfuhr er erst im Bus: nach Wiesbaden. Aber er wusste, was bis dahin nur wenigen bekannt war: Drei Wochen später würden die Russen die Amerikaner als Besatzungsmacht in Sachsen und Thüringen ablösen. Während der amerikanische Offizier freundlich in die Kamera lächelt, bleibt die Skepsis im Gesicht des Verlegers unverkennbar.

Zu den zwanzig Mitfahrern in den beiden Bussen gehörten außerdem Hans Brockhaus und Karl Pfannkuch (Brockhaus-Verlag), Friedrich Michael (Insel-Verlag), Gottfried Löbmann (Kommissionshaus Fleischer) und Wilhelm Klemm (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung). Eine Woche später folgten noch die Inhaber von Breitkopf & Härtel. Karl Rauch und Ernst Reclam hatten die Mitreise abgelehnt. Der aus drei Fahrzeugen bestehende Konvoi setzte sich um 10 Uhr von der Karl-Tauchnitz-Str. aus in Bewegung. Am späten Abend erreichte er die Langgasse in Wiesbaden, wo das Schellenberg’sche Druckerei- und Verlagshaus die Neuankömmlinge aus Leipzig zunächst aufnahm.

Eine Schlüsselfigur in diesem Autobus wird in den historischen Berichten über diesen brain drain führender Vertreter des Leipziger Buchhandels oft vergessen oder nur am Rande erwähnt. Den Amerikanern ging es vielleicht auch um die Rettung einzelner Firmen. In erster Linie aber wollten sie die Zentrale des deutschen Buchhandels mit dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel ins Rhein-Main-Gebiet transferieren, das ihrer Kontrolle unterstand. Deshalb fand auch Georg Kurt Schauer Platz im Bus. Er war unter der Oberleitung des Verlegers Wilhelm Klemm als Geschäftsführer des Börsenvereins-Stützpunkts in Wiesbaden und Herausgeber der Branchenzeitschrift ausersehen.

Zwischen Zeilen und Zeiten. Buchhandel und Verlage 1825-2025. Eine andere Geschichte des Börsenvereins, hrsg. von Christine Haug und Stephanie Jacobs. Göttingen : Wallstein, 2025. 512 S. ISBN 978-3-8353-5847-8 EUR 28.00

Schon am 9. August 1945 erhielt Schauer die persönliche Lizenz für das Börsenblatt. Hauff z.B. musste bis 22. April 1946 auf die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Verlagstätigkeit warten. Das erste Heft des Börsenblatts (mit Jahrgangszählung der Leipziger Ausgabe) konnte daher schon am 6. Oktober in Wiesbaden erscheinen. Zu diesem Zweck waren auch 50.000 RM aus der Leipziger Kasse des Börsenvereins, Matern und Klischees des Börsenblatts, zweieinhalb Tonnen Papier und weitere Unterlagen im Konvoi mitgeführt worden.

Warum haben die Leipziger Mitglieder des Börsenvereins diesen Transfer zugelassen? Durch den Luftangriff vom 4. Dezember 1943 war das Grafische Viertel einschließlich des Buchhändlerhauses schwer zerstört. Bei Kriegsende gab es den Börsenverein als rechtsfähige Organisation nicht mehr, weil kein gesetzlicher Vertreter mehr da war. Der von den Nazis eingesetzte Vorsteher Wilhelm Baur hatte in den letzten Kriegstagen den Tod gefunden, sein Stellvertreter Martin Wülfing war wie der Rest des Vorstandes schwer belastet und nicht mehr vor Ort. Im Mai 1945 hatte sich daher mit Billigung der Handelskammer ein „Aktionsausschuss“ gebildet, dem Hans Brockhaus, Edgar Bielefeldt, Georg Petermann und Theodor Volckmar-Frentzel angehörten. Der Schatzmeister Anton Hiersemann und der bisherige Geschäftsführer Albert Heß nahmen als Gast an den Beratungen teil. Erst im Juli bestellte das Amtsgericht Leipzig Walter Jäh aus Halle/S. als Abwesenheitsvertreter des Vorstehers.

Während der Buchpremiere von Zwischen Zeilen und Zeiten am 28. März 2015 in Leipzig: Am Tisch von links Christine Haug, Thedel von Wallmoden (Verleger) und Stephanie Jacobs. Dazwischen der Hinterkopf des Mitautors Christoph Links.

In der Zwischenzeit blieb dem Aktionsausschuss des Börsenvereins nichts anderes übrig, als die Direktiven des amerikanischen Majors Douglas Waples entgegenzunehmen. In der Sitzung am 5. Juni 1945 wurden die Mitglieder von der Planung einer Zweigstelle in Wiesbaden in Kenntnis gesetzt. Mehr als eine Beschwörungsformel konnte der Aktionsausschuss nicht beschließen: „Es ist das gemeinsame Ziel des Börsenvereins und seiner Zweigstelle Wiesbaden, dem deutschen Buchhandel den im Jahre 1825 gegründeten Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig über alle Stürme und Nöte der Zeit hinweg als Spitzenorganisation zu erhalten.“[1] Doch die zentrale Stellung des Buchhandelsplatzes Leipzig war zu diesem Zeitpunkt bereits Geschichte.  

Ergänzte Fassung meines Beitrags aus: Zwischen Zeilen und Zeiten

[1] zit. nach Otto Seifert: Falle der eiserne Vorhang … In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 10 (2000) S. 143-174, hier S. 173.


Literaturhinweise:

Hans Altenhein: Georg Kurt Schauer (1899–1984) und die Teilung Deutschlands. In: Aus dem Antiquariat N. F. 22 (2024), S. 18–21.

Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besatzung. München: de Gruyter Oldenbourg 1996, S. 742–776.

Reimar Riese: Der Leipziger Börsenverein und die Entwicklung von Verlags- und Buchhandelsstrukturen in der SBZ. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 5: Deutsche Demokratische Republik, Teil 1, 1. Berlin 2022, S. 69–105.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Michael Knoche (31. März 2025). 1945: Mit dem Autobus von Leipzig nach Wiesbaden – Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels wird 200 Jahre alt (1). Aus der Forschungs­bibliothek Krekelborn. Abgerufen am 21. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13lpt


Michael Knoche

Michael Knoche war von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Zu den Buchveröffentlichungen gehört: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft (Göttingen: Wallstein 2018). Persönliche Website: https://www.knoche-weimar.de/

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