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Vergangenheit ohne Ende? 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus – Gespräch mit dem Historiker Christian Meier

War der 8. Mai 1945 in Ihren Augen ein Tag der Befreiung, wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker ihn bezeichnet hat?

Auf jeden Fall. Denn wir waren das Hitlerregime endlich los. Die Frage ist, ob der 8. Mai nur das war. Bis 1985 hat nur die DDR das Datum als gesetzlichen Tag der Befreiung begangen. In der Bundesrepublik galt es eher als Tag des Zusammenbruchs, des Kriegsendes, vielleicht auch der Niederlage. Nach meinem Urteil war der 8. Mai beides: Tag der Befreiung und des Zusammenbruchs. Schließlich hatten unsere Soldaten fast sechs Jahre lang gekämpft. Nahezu jede Familie hatte Gefallene zu beklagen. Millionen von Menschen, die aus Ostpreußen, Hinterpommern, Schlesien vertrieben wurden, Zehntausende von Frauen, die vergewaltigt worden sind, sind ja kaum am 8. Mai befreit worden.

Einwohner der Stadt Weimar werden kurz nach der Befreiung des Lagers von der Besatzungsmacht nach Buchenwald geführt, um das KZ zu besichtigen. © National Archives, Washington / Public Domain

Haben Sie eigene Erinnerungen an den 8. Mai 1945?

Diesen bestimmten Tag habe ich nicht mehr im Gedächtnis. Im Mai 1945 waren wir auf der Flucht von Rostock gerade in Hamburg angekommen, wohnten zu viert in einem Zimmer, zwei, drei Koffer oben auf dem Kleiderschrank – das war unsere ganze Habe. Mein Vater hat meinen Bruder und mich dann zu einer Ausfallstraße Richtung Norden mitgenommen, um einen Zug von Soldaten zu beobachten. „Es wird das letzte Mal sein, daß ihr deutsche Soldaten seht.“ Das hat sich mir sehr eingeprägt.

Waren die Deutschen oder waren die Nationalsozialisten schuld an den Toten des Zweiten Weltkriegs?

Das läßt sich nicht trennen. Ich ärgere mich, wenn es heißt „Am 1. September 1939 sind die Nazi-Armeen über Polen hergefallen“. Daß sie von den Nazis dazu veranlaßt waren, ist klar. Aber ich finde, man sollte das Subjekt richtig benennen: Die deutsche Wehrmacht ist in Polen einmarschiert. Die meisten Soldaten meinten: Das ist ein Krieg, wie der Erste Weltkrieg einer war. Keineswegs alle waren Nazis, obwohl es dann in den Todesanzeigen hieß: „Gefallen für Führer, Volk und Vaterland …“ Auch viele der Angehörigen wollten sich das so schmerzliche Andenken an gefallene Väter, Brüder, Söhne nicht beschmutzen lassen, indem man sie auch noch als Nazis beschimpfte.

Reinhart Koselleck hat einmal gesagt, die Deutschen dürften ihre eigenen Toten nicht erinnern, aber die, die sie ermordet haben, müßten sie erinnern.

Koselleck habe ich 1956 kennengelernt. Wir waren gleichzeitig Assistenten in der Heidelberger Geschichtswissenschaft. Wir hatten bis zu seinem Tod 2006 immer wieder miteinander zu tun und haben 150 Briefe miteinander gewechselt. Mir ist aufgefallen, daß er seine Erinnerungen an den Krieg erst in seinen letzten Lebensjahren schriftlich niedergelegt hat. Ausgelöst wurde dies möglicherweise durch die Kontroverse um die Neue Wache als Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland. Da legte sich Koselleck mit Helmut Kohl an und stellte die Angemessenheit der Pietà von Käthe Kollwitz für das Mahnmal infrage. Seine Position war: Gedenken können wir, aber Erinnern ist eine höchst persönliche Sache, die ich mit niemandem teilen kann. Sie geht bis in die Gedärme, wenn man unmittelbar getroffen ist. So kannte ich Koselleck vorher gar nicht. Bis dahin hatten wir über unsere Jugend oder über die Theorie der Geschichte diskutiert. Für mich waren zumal seine begriffsgeschichtlichen Arbeiten von großer Bedeutung.

Was halten Sie davon, wenn Soldaten angeben, von der systematischen Ermordung der Juden nichts gewußt zu haben?

Christian Meier im Jahr 2015 – Wikimedia Commons Foto: Marcus Cyron

Koselleck, ein aufmerksamer junger Soldat und Angehöriger der 6. Armee, die durch die Ukraine Richtung Stalingrad marschiert ist, hat gesagt, er habe von dem Massenmord der SS in Babi Jar gar nichts gewußt. Später hat er sich, wenn ich es recht erinnere, anders geäußert. Auch Fritz Stern, der mit Helmut Schmidt befreundet war, hat mir mit Verzweiflung davon berichtet, daß der ehemalige Offizier Schmidt von den Judenerschießungen hinter der Front des Rußlandfeldzugs nichts erfahren haben wollte. Gleichgültig, wie sich dies verhielt: Was ist in Hinsicht auf diese Greueltaten Wissen? Man hört dies oder jenes. Man ist sich nicht unbedingt sicher, daß es stimmt, zumal es ja unglaublich klingt: 33.000 Juden ermordet! Man will die Untaten nicht den eigenen Leuten zutrauen. Da beginnt der Zweifel, sich der Sache zu bemächtigen, Wissen arbeitet ja, es kann sich zersplittern; man hat auch anderes, immer neues im Kopf, und am Schluß weiß man es nicht mehr so genau. Man verdrängt. Vielleicht sind in der ungeheuren Menge an Katastrophen zwischen 1939 und 1945 Anzeichen nicht richtig gedeutet oder verdrängt worden. Anders ist es vielleicht, wenn man in nächster Nähe dabei war, wie Axel von dem Bussche, mit dem ich sehr verbunden war. Er wurde in der Ukraine zufällig Zeuge einer Massenexekution von über dreitausend Zivilisten, überwiegend Juden. Daraufhin hat er den Entschluß gefaßt, sich für ein Attentat auf Hitler zur Verfügung zu stellen. Die Gelegenheit kam, als er Hitler eine neue Uniform vorführen sollte. Er wollte in seinem Tornister eine Bombe mitführen, um sich zusammen mit dem Führer in die Luft zu sprengen. Doch der Eisenbahnwaggon mit den Vorführuniformen wurde bei einem Luftangriff vernichtet, so daß er den Plan nicht realisieren konnte. Man kann nicht einfach sagen: Alle waren Nazis. Es gab das Spektrum von Eichmann bis von dem Bussche. Wenn Schmidt und Koselleck angeben, nichts gewußt zu haben, muß man das akzeptieren. Jedenfalls bin ich in der persönlichen Bewertung vorsichtiger als manche Historikerkollegen.

Sie haben einmal von einer deutschen „Herkunftsschwäche“ gesprochen und damit gemeint, daß die Kriegsgeneration über ganze Teile ihrer Biographie zumeist schwieg. Wie beurteilen Sie den Umgang von Hans Robert Jauß mit seiner Vergangenheit als Waffen-SS-Offizier? Sie waren mit ihm befreundet. Konnten Sie mit ihm über seine Biographie sprechen?

Christian Meier: Vergangenheit ohne Ende?
Hrsg. von Michael Knoche. 2. Auflage Göttingen: Wallstein 2024. 144 S., geb., ISBN 978-3-8353-5780-8 € 20,00 – Das nebenstehende Gespräch ist ein Auszug aus dem Buch.

Wir wohnten in Heidelberg in der Rottmannstraße zwei Häuser entfernt voneinander, unsere Kinder haben miteinander gespielt. Ich habe ihn über Reinhart Koselleck kennengelernt. Daß er in der Waffen-SS gewesen war, wußte ich und wußten andere auch. Er hat wohl nach dem Krieg mit gefälschten Papieren die Zulassung zum Studium an der Universität Bonn erreicht und sich später bei seinem Heidelberger Doktorvater Gerhard Hess hochgearbeitet, der dann DFG-Präsident und Gründungsrektor der Universität Konstanz wurde. Die Verdienste von Jauß um die Universität Konstanz, an die er 1965 berufen wurde, um die theoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft und um die Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik unterliegen keinem ernsthaften Zweifel. Außerdem hat er viel getan, um emigrierte Juden wieder ins Land zu holen, sie etwa zu Tagungen einzuladen. Er hatte beste Beziehungen zu Adorno, Kracauer etc. Er war Mitglied der SPD. Er konnte also auf eine tadellose Vita in der Bundesrepublik verweisen, als Mitte der 90er Jahre seine Waffen-SS-Vergangenheit zum Gegenstand öffentlicher Debatte wurde. Mir schien es damals, daß er auf die Enthüllungen falsch reagiert hätte. Ich hätte es gut gefunden, wenn er sich offen mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hätte. Vielleicht scheute er das Risiko? Vielleicht hatte er sich so tief in seine Nachkriegsrolle hineingearbeitet, daß er da nicht so leicht herauskam? Vielleicht wäre, wenn es zu einer öffentlichen Erörterung gekommen wäre, doch mehr ans Licht gelangt? Man weiß bis heute ja nur, daß seine Einheit in Jugoslawien Partisanen bekämpft hat. Partisanenkampf ist immer eine üble Angelegenheit.

Daß er heute in Gefahr ist, der Damnatio memoriae zu verfallen, ist also auch ihm selber zuzuschreiben?

Vielleicht! Er starb noch während der Debatte im Jahr 1997.


Buchvorstellung mit Christian Meier und Michael Knoche im Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 10. April 2025 um 18 Uhr. Eintritt frei.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Michael Knoche (7. April 2025). Vergangenheit ohne Ende? 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus – Gespräch mit dem Historiker Christian Meier. Aus der Forschungs­bibliothek Krekelborn. Abgerufen am 21. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13p4c


Michael Knoche

Michael Knoche war von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Zu den Buchveröffentlichungen gehört: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft (Göttingen: Wallstein 2018). Persönliche Website: https://www.knoche-weimar.de/

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