„Pioniere für das Deutschtum“: nationale Töne im Buchhandel 1922 – Episoden aus der Geschichte des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der seinen 200. Geburtstag feiert (5)
Ostpreußen hatte unter den Folgen des Ersten Weltkriegs besonders zu leiden. Das Geringste war, dass Königsberg nach Abdankung der Hohenzollern keine Residenzstadt mehr war. Dieser Status hatte schon lange keine praktische Bedeutung mehr gehabt. Aufgrund des Versailler Friedensvertrags mussten fast ganz Posen und Westpreußen sowie das Memelgebiet abgetreten werden. Damit entfielen wichtige Absatzgebiete für ostpreußische Waren. Die schlimmste Einschränkung für die Bevölkerung bedeutete die Unterbrechung der Verbindung zum Reich. Wer per Eisenbahn nach Berlin reiste, musste das Nadelöhr der Weichsel-Brücke bei Dirschau/Tczew passieren. Für die Fahrt durch den „polnischen Korridor“ wurden Lokomotive und Zugpersonal ausgetauscht und die Waggons verplombt. In Ostpreußen verstärkte sich das Gefühl, auf einer Art Insel, abgetrennt vom Reich zu existieren. Provinz und Stadt wurden während der Weimarer Republik zwar linksdemokratisch regiert, aber die Deutschnationale Volkspartei hatte traditionell eine machtvolle Stellung. In den dreißiger Jahren wurde die NSDAP die stärkste Partei.

In die unruhige Nachkriegszeit fiel das zweihundertjährige Firmenjubiläum von Gräfe und Unzer, das angesichts der Umstände nicht pompös gefeiert wurde, aber in der Selbstdarstellung der Firma eine zentrale Rolle spielte. Während die bisherigen Jahrestage allesamt sang- und klanglos vorübergegangen waren, besann man sich in einer als krisenhaft empfundenen Zeit mehr als zuvor auf die eigene Geschichte. So hieß es z.B. in einem Katalogvorwort: „… daß wir uns heute nicht weniger als bisher der Pflicht bewußt sind, im strengsten Sinne des Wortes unser im Jahre 1922 zweihundert Jahre bestehendes Geschäft je länger je mehr zu einem Kulturfaktor unserer durch Abtrennung vom Vaterlande in ihrem Deutschtum arg bedrohten Heimat auszugestalten.“

Es war typisch für die nationale Rhetorik dieser Jahre, dass sogar die Stammväter der Firma, die auch für die litauischen und polnischen Bewohner Ostpreußens Bücher produziert hatten, jetzt für die geistige Landesverteidigung in Anspruch genommen wurden. Dabei waren ihre Leitideen „die Ehre Gottes, das Wachstum der Universität und das allgemeine Beste“, wie sie der zweite Inhaber Johann Heinrich Hartung im 18. Jahrhundert formuliert hat, und nicht ein ideologisch aufgeladenes „Deutschtum“.
Ein Hausmuseum mit Erinnerungsstücken aus der Verlagsgeschichte wurde eingerichtet. Zu sehen waren etwa das Privileg zum Betrieb einer Buchhandlung, das der preußische König 1722 ausgestellt hatte, oder mehrere Bildnisse Kants. Zum Jahrestag erschien auch eine kleine Festschrift von Gerhard Menz mit ausführlichem historischem Rückblick.
Zum Jubiläum luden die beiden Inhaber von Gräfe und Unzer, Hugo Pollakowsky und Otto Paetsch, ihre Buchhändlerkollegen aus ganz Deutschland nach Königsberg ein. Für diesen Anlass allein hätten sie die weite Reise vermutlich nicht gemacht, aber die gleichzeitig stattfindende Jahresversammlung des Verbandes der Kreis- und Ortsvereine im deutschen Buchhandel verlieh der Einladung ins ferne Ostpreußen Zugkraft. In der Frühjahrssitzung des Verbandes begründete Paetsch in der Rolle des Vorsitzenden des gastgebenden Vereins die Einladung nach Königsberg mit Worten, die das Sitzungsprotokoll so wiedergab:
Heute, meine Herren, möchte ich Sie bitten, Ihre Augen nach dem Osten zu richten, nach meiner Heimat, von der ich Ihnen sagen muß, daß Sie sie nicht mehr als eine landläufige preußische Provinz ansprechen können (Hört, hört!); denn der Rest Ostpreußens, der dem Reich verblieb, ist heute, ob wir es zugeben wollen oder nicht, durch den breiten polnischen Korridor abgetrennt vom Mutterlande, nichts anderes als eine deutsche Kolonie, die einzige deutsche Kolonie und nicht einmal eine gesicherte: sie ist heiß umstrittenes deutsches Land und ihre Zukunft gänzlich ungewiß. Wir sind dort oben seit Jahrhunderten an eine Vorpostenstellung gewöhnt, und wir werden auch jetzt in dieser bittern Zeit unser Bestes daran setzen, deutsch zu bleiben. (Bravo!)

Otto Paetsch gelang es tatsächlich, seinen Kollegen die Reise nach Königsberg als eine geradezu vaterländische Pflicht ans Herz zu legen. Die Tagung am 9. und 10. September 1922 wurde ein großer Erfolg. Mitten in den Nachkriegswirren und auf dem Höhepunkt der Inflation reisten 300 Buchhandelsvertreter aus ganz Deutschland an. Die „Erinnerungsstunde“ an das 200jährige Jubiläum der eigenen Buchhandlung war ins unmittelbare Vorfeld der Tagung verlegt worden. So erlebten viele auswärtige Kollegen mit, wie hohe Vertreter aus Wissenschaft, Literatur und Kunst der Buchhandlung Glückwünsche überbrachten. Otto Paetsch schlug erneut nationale Töne an: „In feierlicher Stunde trete ich vor Sie, zurückblickend auf eine Generation von Buchhändlern, die für das Deutschtum als treue Pioniere ihre Kraft einsetzten, um Sie willkommen zu heißen.“ Die Buchbranche insgesamt, bei Anwesenheit des Vorstehers des Börsenvereins und des Direktors der Deutschen Bücherei, schien auf den Erfolg von Gräfe und Unzer stolz zu sein und ihn als Ansporn für die eigene Zunft zu verstehen. Das Börsenblatt bezeichnete die Jubelfeier in seinem Bericht als „erhebend“.
Der nachhaltige Eindruck, den die Tage in Königsberg auf die Teilnehmer gemacht hatten, spiegelte sich ein halbes Jahr später auch im Jahresbericht des Verbandes der Kreis- und Ortsvereine im deutschen Buchhandel wider. Auch in diesem Resümee traten die politischen Motive offen zutage, die bei der Wahl des Tagungsortes mitgespielt hatten:

Die Herbst-Versammlung unseres Verbandes in Königsberg am 9. und 19. September 1922 gestaltete sich dank einer bis ins einzelnste durchdachten, großzügigen Vorbereitung durch den Vorstand des Kreisvereins Ost- und West- preußischer Buchhändler und insbesondere seines tatkräftigen Vor- sitzenden, Herrn Otto Paetsch, zu einer eindrucksvollen vaterländischen Kundgebung, wie sie der Buchhandel noch nicht erlebt haben dürfte. Unter opferbereiter, auf einen herzlichen Ton gestimmter Teilnahme der staatlichen und städtischen Behörden, der Vertreter der wissenschaftlichen und literarischen Kreise der Provinz Ostpreußen und der Presse durften wir Feierstunden verleben, die allen Teilnehmern lebenslang unvergeßlich sein werden. Die geschäftlichen Verhandlungen waren umrahmt durch gesellschaftliche Veranstaltungen, bei denen vaterländische Gefühle immer und immer wieder zum Durchbruch und zu erhebendem Ausdruck kamen, und welcher deutsche Buchhändler, der daran teilnehmen durfte, wird neuerdings nicht unserer deutschen Brüder im Memelland gedacht und mit Schmerz und Ingrimm die Leiden mitgefühlt haben, die sie erdulden müssen! In herzlicher Dankbarkeit für die uns erwiesene Gastfreundschaft wollen wir uns an dieser Stelle der unter dem Drucke dauernder Gefahren stehenden Ostpreußen und Memelländer erinnern.
Viele Buchhändler waren wohl überrascht von der ertragreichen Veranstaltung „in dem sonst durch kommerzielle Kühnheiten nicht eben verwöhnten Nordosten“, wie Ludwig Goldstein seine agrarisch geprägte Heimat einmal selbstironisch charakterisiert hat. Aber fast alle wollten ihre Teilnahme an der Versammlung auch als politische Manifestation jenseits von Parteigrenzen verstanden wissen. Ostpreußen war drauf und dran, sich zu einem Mythos zu stilisieren und eben dadurch zu einem angesagten Ausflugsziel zu werden. Ostpreußen „soll in Betracht kommen, wenn der Deutsche ans Reisen denkt“, dekretierte etwa auch Thomas Mann.
Leicht verändert und gekürzt aus: Michael Knoche: Sortiments- und Verlagsgeschichte von 1722 bis 1950. (300 Jahre Gräfe und Unzer, Band 1). München: Gräfe und Unzer 2022. (Dort auch alle Literaturnachweise.)
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Michael Knoche (30. Juni 2025). „Pioniere für das Deutschtum“: nationale Töne im Buchhandel 1922 – Episoden aus der Geschichte des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der seinen 200. Geburtstag feiert (5). Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn. Abgerufen am 11. November 2025 von https://doi.org/10.58079/148j0

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