Eine Aktiengesellschaft fördert die Zusammenarbeit der Bibliotheken – Gespräch mit Sonia Abun-Nasr, Direktorin der Universitätsbibliothek Bern
Sonia Abun-Nasr ist promovierte Historikerin und seit 2021 Direktorin der Universitätsbibliothek Bern. Mit ihr habe ich über Formen der Zusammenarbeit innerhalb des universitären Bibliothekssystems und zwischen den wissenschaftlichen Bibliotheken der Schweiz gesprochen, einem Land, das vielleicht noch heterogenere Trägerschaften und Ausprägungen von Bibliotheken kennt als Deutschland. Unter einigen Aspekten scheint mir die Kooperation durchaus vorbildlich zu sein.

Wie ist die Rollenverteilung zwischen Bund und Kantonen im System der schweizerischen wissenschaftlichen Bibliotheken?
Das wissenschaftliche Bibliothekswesen ist durch die föderale Struktur geprägt. Die meisten Hochschulbibliotheken werden im Rahmen kantonaler Universitäten betrieben. Hinzu kommen die Kantonsbibliotheken, die entweder in Kooperation mit Hochschulbibliotheken oder als eigenständige Institutionen der Kantone geführt werden. Der Bund finanziert die Schweizerische Nationalbibliothek in Bern und die Bibliotheken der eidgenössischen Hochschulen in Zürich und Lausanne.
Was ist das stärkste Bindeglied zwischen den wissenschaftlichen Bibliotheken?
Das ist die Swiss Library Service Platform (SLSP), eine nicht-kommerzielle Aktiengesellschaft. Sie betreibt für etwa 500 wissenschaftliche Bibliotheken die nationale Bibliotheksplattform Swisscovery. Swisscovery ermöglicht das Auffinden von digitalen und Print-Publikationen und bindet weitere freie Ressourcen ein. Zudem verbindet sie die Bibliotheken mit einem nationalen Kurier für die Lieferung von Print-Publikationen. Daneben gibt es eine Zusammenarbeit innerhalb der Strukturen der Hochschulverwaltung, d.h. von Swissuniversities, der Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Schweizer Hochschulen. Im Netzwerk SLiNER (Swiss Library Network for Education and Research) bringen die Hochschulbibliotheken ihr Expertenwissen zum Thema wissenschaftlicher Information ein und vertreten ihre Anliegen gegenüber Swissuniversities. Nicht zuletzt arbeiten alle Schweizer Bibliotheken unabhängig vom Bibliothekstyp im nationalen Verband Bibliosuisse zusammen.
Kann Swisscovery einen direkten Zugang zu den digitalen Medien bieten?
Nein, die digitalen Medien können lizenzrechtlich nur von der jeweiligen Bibliothek zugänglich gemacht werden. Hier gibt es einen viel beklagten Widerspruch zwischen national angebotener Recherche und rein lokaler Zugänglichkeit. Es gibt auch Kritik an Swisscovery insofern, als es heißt, die Oberfläche sei nicht benutzerfreundlich genug.
Neben Swisscovery gibt es aber nach wie vor Spezial-Plattformen?
Ja, z. B. ist „e-rara“ die Plattform für retrodigitalisierte historische Buchbestände aus Schweizer Bibliotheken, „e-manuscripta“ für handschriftliche Quellen, „e-newspaperarchives“ für Zeitungen, „e-periodica“ für Zeitschriften. Zusätzlich gibt es die Metadatenbank „Swiss Collections“ für Spezialbestände.
Betreibt SLiNER, die mir mit der Sektion IV im Deutschen Bibliotheksverband vergleichbar zu sein scheint, auch eigene Projekte?
Wir beteiligen uns eher an Projekten, als dass wir sie durchführten. Ich bin z.B. als Vorstandsmitglied in der Delegation Open Science aktiv und vertrete dort die Interessen der Bibliotheken, wenn es darum geht, im Bereich Open Science Empfehlungen an Swissuniversities zu geben. Wichtig ist es aber, dass SLiNER zu verschiedenen Themen wie etwa im Bereich Open Access oder Forschungsdaten mit verschiedenen spezialisierten Arbeitsgruppen in wissenschaftspolitische Diskussionen einbezogen wird.
Würden Sie eine noch engere Vernetzung der Bibliotheken begrüßen?

Einerseits ja, aber ich finde es doch schwierig sich vorzustellen, wie Hochschulbibliotheken enger zusammenarbeiten sollen, die stark in ihre eigene Hochschule eingebunden sind und wenig Entscheidungsspielraum haben. Es ist die Frage, wie autonom Hochschulbibliotheken heute agieren können, z.B. im Themenfeld Open Science. Die Swiss Library Service Platform, in dessen Verwaltungsrat Vertreter der Universitäten und keine Bibliothekarinnen sitzen, wird noch 2025 spezielle Strategieworkshops zur weiteren Vernetzung durchführen. Ich bin gespannt, wohin die Reise geht.
Welche Rolle spielt die gemeinsame Speicherbibliothek?
Die Speicherbibliothek in Büron/Luzern wird von einem Verein getragen. Das Besondere ist, dass ein sogenannter kollektiver Bestand gebildet wird, der nur noch die besterhaltene und vollständigste Ausgabe enthält und keine Mehrfach-Exemplare kennt. Die UB Bern ist noch kein Mitglied der AG, weil die Platznot bei uns noch nicht so groß ist wie etwa in Zürich oder Basel.
Gibt es in der Schweiz auch so etwas wie DEAL?
Ja, unter dem Dach der Suisse Library Service Platform gibt es das Konsortium der Schweizer Hochschulbibliotheken, das Transformationsverträge mit den Großverlagen aushandelt. Das ist vielleicht die weitgehendste Form der Zusammenarbeit von Bibliotheken.
Man hört, dass gerade die Verhandlungen mit Wiley geplatzt sind.
In der Schweiz nimmt man Anstoß daran, dass die Kosten die Verträge deutlich über dem Niveau anderer europäischer Länder liegen. Das war bis jetzt auch bei Wiley so. Die Verhandlungen laufen aber noch.
Gibt es über die institutionelle Zusammenarbeit hinaus programmatische Anregungen für die Arbeit der Hochschulbibliotheken?
Ja, auf zwei Ebenen: Die gerade revidierte „Nationale Open-Access-Strategie“ für die Schweiz sieht vor, die Abhängigkeit von den Großverlagen zu vermindern und zu erreichen, dass der Zugang zu öffentlich finanzierter Forschung weiter verbessert wird. Außerdem haben wir eine “Nationale Schweizer Strategie für Open Research Data” formuliert. Sie möchte die Rahmenbedingungen für den Umgang mit Forschungsdaten und für die Ausgestaltung der Schweizer Dienstleistungs- und Infrastrukturlandschaft vorzeichnen. Wenn Hochschulbibliotheken Projekte auf diesen Feldern einleiten, können sie mit Forschungsgeldern des Bundes unterstützt werden. In Bern beschäftigen wir z. B. sieben Data Stewards z. T. aus solchen Mitteln.
Da kommt aber doch eine Menge an interessanten Vernetzungsinitiativen zusammen – in diesem vermeintlich so zentrifugalen Bibliothekssystem. Wie sieht die Zusammenarbeit auf der Ebene der Ihrer eigenen Universität aus?
Als ich 2021 meine Stelle antrat, sagte man mir, das Bibliothekssystem hat etwa 19 Standorte. Damals habe ich gelacht und zurückgefragt, wieso „etwa“? Bis 19 kann man doch zählen. Es ist natürlich die Frage, was einen Standort definiert. Wenn man auf ein abgrenzbares Gebäude abhebt, kommt man auf 21 Standorte. Die meisten liegen in dem Universitätsquartier Länggasse. Eine Ausnahme bildet der Standort in der Altstadt (Münstergasse), der aus einer älteren Bibliothek hervorgegangen ist. Das Spektrum reicht von der winzigen Bibliothek des Sportwissenschaftlichen Instituts mit zwei Mitarbeiterinnen, die sich eine Stelle teilen, bis zum Bibliotheksbereich Theologie und Geisteswissenschaften mit etwa 65 Mitarbeitenden an drei Standorten. Mein Büro liegt leider in einem reinen Verwaltungsgebäude der Universität, das ursprünglich für die Schweizer Bahn gebaut wurde. Dort sind auch die Digitalen Dienste, Open Science und die IT angesiedelt.
Ist der Abstand vom Tagesgeschäft ein Problem?
Die Funktion der UB-Leitung war lange Zeit nur die einer lockeren Koordination. Die Instituts- und Bereichsbibliotheken haben sich in der Vergangenheit vielfach autonom weiterentwickelt, nicht nur im negativen Sinne. Im Bereich Medizin und Naturwissenschaften etwa ist es zu einer wichtigen Forschungsunterstützung gekommen. Wir diskutieren jetzt, welche bibliothekarischen Dienstleistungen zentral und welche auf Fachebene angeboten werden sollten. Ich vertrete einen ganzheitlichen Ansatz, ohne alles von oben nach unten steuern zu wollen. Bis Ende des Jahres 2025 wollen wir die Ziele festgelegt haben.

Welche Funktion hat das Gebäude der UB in der Münstergasse?
Das Haus gehört der Burgergemeinde Bern. Wir sind Mieter, und daneben betreuen wir die wertvollen historischen Buchbestände der Burgergemeinde im Zuge einer Leistungsvereinbarung. Die UB Bern ist gleichzeitig auch Kantonsbibliothek und richtet sich an diesem Ort an die Öffentlichkeit. Hier finden auch Lesungen, Vorträge etc. statt. In der Münstergasse gibt es einen Freihandbestand für Bernensien, zwei Lesesäle, weitere Arbeitsplätze und ein Magazin für die historischen Bestände in der Größenordnung von 300.000 Drucken vor 1900. Außerdem befindet sich hier die Ausleihzentrale für alle Standorte der UB.
Gibt es auch eine zentrale Bibliothekskommission der Universität, die die Ausrichtung der Universitätsbibliothek mitbestimmt?
Alle Fakultäten, der Verwaltungsdirektor, Vertreter des Mittelbaus und der Studierenden sind in der Bibliothekskommission vertreten. Der Austausch in diesem Gremium ist sehr wichtig, unterstützend und anregend für uns, gerade in Strategiefragen.
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Michael Knoche (7. Juli 2025). Eine Aktiengesellschaft fördert die Zusammenarbeit der Bibliotheken – Gespräch mit Sonia Abun-Nasr, Direktorin der Universitätsbibliothek Bern. Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn. Abgerufen am 11. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14akr

Neueste Kommentare