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Sind Bibliotheken unverzichtbar für die Demokratie? Peter Strohschneider über das Prinzip der Sammlung und seine gesellschaftliche Bedeutung

Passend zum „Internationalen Tag der Demokratie“ am 15. September liegt im neuen Heft (3–4/2025) der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie ein programmatischer und unbedingt lesenswerter Beitrag des einstigen DFG-Präsidenten und Wissenschaftsrats-Vorsitzenden Peter Strohschneider mit dem Titel „Sammlung – Historisierung – Demokratie“ vor. Der Text geht auf einen Festvortrag zurück, den Strohschneider am 5. Februar 2025 anlässlich des 20. Jubiläums des Studienzentrums der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gehalten hat. Das Gebäude der Herzogin Anna Amalia Bibliothek liegt passenderweise am „Platz der Demokratie“. Das Areal hieß vor 1945 „Fürstenplatz“.

Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Foto: Klassik Stiftung Weimar, Foto: Mokansky. Ein Ort, „der auch in seinem ästhetischen Anspruch das Niveau der intellektuellen Arbeit anzeigt, welcher er dient,“ wie Peter Strohschneider es bei anderer Gelegenheit einmal formuliert hat.

Sammlungen sind nach Strohschneider mehr als bloße Ansammlungen: Sie schaffen neue Sinnzusammenhänge, indem sie Objekte aus ihren ursprünglichen Kontexten lösen und in eine gehaltvolle Ordnung einfügen. Sie eröffnen durch Rekontextualisierung neue Sinnhorizonte. Während Vorratshaltung (z. B. ein Waffenarsenal) auf klar definierte zukünftige Zwecke abzielt, öffnen Sammlungen Objekte für unvorhergesehene Bedeutungen und Beziehungsmöglichkeiten. Eine Waffensammlung z.B. könnte individueller Faszination, erinnerungskulturellen, machtdemonstrativen, touristischen oder Forschungszwecken dienen, also den Sinn eines Arsenals weit überschreiten. Diese besondere Eigenschaft von Sammlungen bezeichnet er als „Latenz“: das Potenzial von Sammlungsobjekten, in unvorhersehbaren Zukünften neue Bedeutungen zu entfalten. Bibliotheken – aber auch andere Gedächtniseinrichtungen – institutionalisieren diese Latenz.

Moderne Gesellschaften sind, so Strohschneider weiter, durch Pluralismus und Kontingenz geprägt. Autorität, Legitimität und Wissen sind keine absoluten Größen, sondern werden in Aushandlungsprozessen bestimmt. Bibliothekarische Sammlungen etwa ermöglichen Perspektivvielfalt, Aufmerksamkeit für Unvorhergesehenes und die Fähigkeit, eigene Überzeugungen als kontingent zu begreifen – eine Voraussetzung für demokratische Diskurse.

Genau diese Offenheit für Unerwartetes gerät jedoch zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Ein utilitaristischer Bibliotheksdiskurs („Nutzerorientierung“, „Management“) verkennt die eigentliche Logik der Sammlung und riskiert, diese in reine Bedarfsbefriedigung zu verwandeln. Damit verfehlen Bibliotheken nicht nur ihre eigene Funktion, sondern gefährden auch den pluralistischen Diskurs, der für Demokratien konstitutiv ist.

Sammlungen sind konstitutiv für demokratische Gesellschaften, weil sie offene Horizonte bewahren. Ihr Latenzprinzip ermöglicht die Auseinandersetzung mit Ungewissheit – eine Fähigkeit, die Strohschneider in Zeiten „großer Gereiztheit“, autoritärem Populismus, naiver Wissenschaftsgläubigkeit oder antipluralistischem „wokem“ Aktivismus zunehmend bedroht sieht.1 Der Autor warnt abschließend vor aktuellen Tendenzen, die genau diese offenen, mehrdeutigen Räume bedrohen. Sammlungen stehen somit im Zentrum eines demokratischen Ethos, das Offenheit, Reflexion und die Möglichkeit des Neuen gegen vereinfachende und ausgrenzende Narrative verteidigt.

Peter Strohschneider (Videostill aus einer Veranstaltung der Europäischen Kommission)

Strohschneider äußert sich nicht zum ersten Mal zum Thema Sammlungen und Bibliotheken.2 In der Festrede führt er Überlegungen zusammen, die für Bibliotheken durchaus Sprengkraft haben. Sie richten sich gegen eine Bibliotheksphilosophie, die Bibliotheken zu bloßen delivery heros macht. „Die Sammlung würde zu einer Institution der Irritationsfreiheit, der Produktion von filter bubbles, welche die Möglichkeit der Aufmerksamkeit auf Unvorhergesehenes und Neues verkümmern lässt und Zukunft verschließt.“ (S. 194) Den Begriff „Sammlung“ in dieser Aussage müsste man in Anführungszeichen setzen, denn um eine solche in emphatischem Sinne handelt es sich ja gerade nicht.

So überzeugend mir Strohschneiders Überlegungen zum Thema „Sammlung“ erscheinen, frage ich mich doch, wie eng der Zusammenhang zwischen bibliothekarischer Sammlung und Demokratie tatsächlich ist. Als Bibliothekar möchte man diesen Nexus gerne für gegeben halten. Historisch gesehen befanden sich jedoch die prächtigsten und differenziertesten Bibliothekssammlungen im Besitz absolutistischer Herrscher – etwa des Zaren. Auch heute trägt die in ihren Beständen unübertroffen reiche Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg nicht unbedingt zur Förderung pluralistischer Demokratie bei. Ebenso ließe sich das Gegenteil denken: demokratische Gesellschaften, die der Institution Bibliothek und ihren Sammlungen wenig Gewicht beimessen. Länder wie Südkorea oder Taiwan haben erst spät bedeutende Bibliotheken aufgebaut und dennoch lebendige demokratische Kulturen entwickelt. Moderne Demokratien scheinen bibliothekarische Sammlungen allenfalls als nice to have zu betrachten. Unbestritten bleibt allerdings die starke Analogie zwischen Sammlung und Demokratie, wenn man Prinzipien wie Perspektivvielfalt, die Fähigkeit zur Relationierung, die Bedeutung von Historisierung usw. als tertium comparationis nimmt.

Strohschneider zeigt, dass bibliothekarische Sammlungen mehr sind als zufällig zustande gekommene Speicher: Infrastrukturen des Möglichkeitssinns. Sie schaffen neue Sinnordnungen, eröffnen Relationen zwischen Vergangenem und Zukünftigem und halten Perspektiven für das Unvorhersehbare offen – alles auch zentrale Elemente demokratischer Kultur.

  1. Die Zusammenhänge hat Strohschneider in seinem Buch Wahrheiten und Mehrheiten. Kritik des autoritären Szientismus. München: Beck 2024 näher ausgeführt. []
  2. Strohschneider, Peter: Unordnung und Eigensinn der Bibliothek. Eröffnungsvortrag auf dem 98. Deutschen Bibliothekartag. In: Hohoff, Ulrich; Schmiedeknecht, Christiane (Hrsg.): Ein neuer Blick auf Bibliotheken. 98. Deutscher Bibliothekartag in Erfurt 2009, Hildesheim, u.a.: Olms, 2010, S. 17–25; ders: Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9–26 http://www.denkstroeme.de/heft-8/s_9-26_strohschneider (zuletzt am 23.8.2025). []

OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Michael Knoche (15. September 2025). Sind Bibliotheken unverzichtbar für die Demokratie? Peter Strohschneider über das Prinzip der Sammlung und seine gesellschaftliche Bedeutung. Aus der Forschungs­bibliothek Krekelborn. Abgerufen am 13. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14nyd


Michael Knoche

Michael Knoche war von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Zu den Buchveröffentlichungen gehört: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft (Göttingen: Wallstein 2018). Persönliche Website: https://www.knoche-weimar.de/

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