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Die große Welle von Personalentlassungen ist ausgeblieben – Gespräch mit Daniela Lülfing, der ehemaligen Direktorin des Hauses Unter den Linden der Berliner Staatsbibliothek (2/2)

Die ostdeutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach dem Mauerfall (8)

Was war in Augen der heikelste Moment im Vereinigungsprozess?

Besonders kompliziert wurde es, als Abteilungen zusammengelegt und eine einzige Katalogabteilung, eine Handschriftenabteilung, eine Musikabteilung usw. gebildet wurden. Mir war klar, dass man nichts doppelt machen könne. Ich erinnere mich an Szenen, wo Mitarbeiter tränenüberströmt vor mir saßen und sich nicht in das andere Haus versetzen lassen wollten. Sie fühlten sich dort nicht willkommen und waren kreuzunglücklich. In den Sonderabteilungen war es auf andere Weise kompliziert. Sie sollten ja alle – als eine Abteilung – ins Haus Unter den Linden umsiedeln. Das bedeutete für viele einen Wechsel von West nach Ost.

Sie haben in dieser Phase auch eine neue Abteilung geschaffen, die es so an anderen Bibliotheken nicht gab.

In diesem Zusammenhang sind wir auf die Idee mit der historischen Forschungsbibliothek gekommen. Das heißt, ursprünglich war es Richard Landwehrmeyers Idee. Das Haus Unter den Linden sollte für die alte Literatur zuständig sein, das Haus Potsdamer Straße für die neuere. Der historische Bestand und die Sondersammlungen waren ein Unterpfand, mit dem die Staatsbibliothek wuchern konnte. Diesen Schätzen wollten wir im Organigramm Rechnung tragen. Daher haben wir aus der alten Erwerbungs- und der Katalogabteilung der Deutschen Staatsbibliothek die neue Abteilung Historische Drucke formiert. Das Problem war nur, dass die Bibliothekare, die bisher Neuerscheinungen katalogisiert hatten, nicht ohne weiteres auch lateinische Drucke des 16. Jahrhunderts bearbeiten konnten. Kein Mensch in der Katalogabteilung hatte je vom Fingerprint gehört. Daher konnte auch die neue Abteilung nicht geschaffen werden ohne teilweise erheblichen Widerstand der Betroffenen. Sie mussten sich ja umstellen und etwas ganz Neues lernen. Personen, die dabei nicht mitmachen wollten, wurden etwa in die Erwerbungs- oder Katalogabteilung des Hauses Potsdamer Straße umgesetzt.

Bei der Verabschiedung des Generaldirektors Richard Landwehrmeyer 1995 in den Ruhestand. Von links: Lülfing, Günter Baron, Landwehrmeyer. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin – SPK

Nach welchem Kriterium wurden die Abteilungsleiterstellen der vereinigten Bibliothek besetzt?

Der Stiftungspräsident hatte das Anciennitätsprinzip als Richtschnur eingeführt. Das heißt, dass derjenige von den zwei bisherigen Abteilungsleitern der neue Abteilungsleiter werden würde, der die längere Dienstzeit hinter sich hat. Der andere wird Stellvertreter. Daraufhin haben sich Abteilungsleiter aus dem Haus Potsdamer Straße beim Präsidenten beklagt, sind z.T. sogar vor Gericht gezogen. Es gab turbulente Personalversammlungen. Man brauchte starke Nerven, um auch persönlichen Anfeindungen standzuhalten. Es gab Abteilungen, in denen sich die Abteilungsleiter aus dem Weg gingen. In anderen wurde die Entscheidung gelassen akzeptiert und gut zusammengearbeitet. Aber wenn ich für die Sanierungsplanung einmal Zuarbeiten aus dem Haus Potsdamer Straße brauchte, kam diese entweder gar nicht, unabgestimmt oder mit Verzögerung.  Im Laufe der Jahre hat sich die Situation entspannt, aber am Anfang war sie so.

Wann trat die Entspannung ein?

Erst im Jahr 1998, als der Stiftungsrat das Gutachten zur Zukunft der Staatsbibliothek von Hermann Leskien, Karl Wilhelm Neubauer und Paul Raabe abgesegnet und die grundlegende Sanierung des Hauses Unter den Linden als Standort der historischen Bestände der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek und der bestandsverwaltenden Sonderabteilungen (ohne Orient) beschlossen hat, hat sich Stimmung einigermaßen beruhigt.

Wie würden Sie die mentale Konstellation zwischen Ost und West beschreiben?

Wir DDR-Bürger sind über Nacht in einem fremden Land aufgewacht. Es dauert einfach eine Weile, bis wir das realisiert und uns neu sortiert haben. Die Bediensteten der Staatsbibliothek Potsdamer Straße verfügten über die gesamten Privilegien der einstigen West-Berliner Enklave – von Sonderzulagen bis zu zusätzlichen freien Tagen – und wollten diese natürlich nicht aufgeben. Diesen Umständen standen die Bibliothekare aus dem Osten gegenüber, die sagten: Wir haben auch eine ordentliche Ausbildung und können auch Bibliothek. Man war sich schon zu Zeiten der Teilung des Landes von gleich zu gleich begegnet und hatte etwa in denselben Kommissionen zur Erarbeitung der Katalogisierungsregeln zusammengearbeitet. Daher kam das Selbstbewusstsein. Aber man darf die Befindlichkeit auch nicht vorschnell verallgemeinern.

Was meinen Sie damit?

Es gab auch eine Menge Mitarbeiter der Staatsbibliothek-Ost, die mit dem Vereinigungsprozess zufrieden waren: Sie bekamen ein ordentliches Gehalt, hatten eine neue Aufgabe bekommen, mit der sie sich vielleicht anfreunden mussten, aber bei denen war ein Stück weit Alltag eingekehrt.

Deutsche Staatsbibliothek, Lesesaal für Gesellschaftswissenschaften, 1969. Foto: Manfred Thonig, Deutsche Fotothek.

Gab es Unterschiede in der Arbeitseinstellung zwischen Ost und West?

In der Arbeitsmoral gab es keine Unterschiede. Auf beiden Seiten waren die Mitarbeiter in der Regel sehr motiviert und haben ihre Arbeit nicht nur als Job betrachtet. In der Staatsbibliothek Ost sah man sich deutlich – das war das Erbe von Horst Kunze und Friedhilde Krause – in der Tradition der Königlichen Bibliothek bzw. Preußischen Staatsbibliothek. In der DDR war dieses historische Bewusstsein eine Art Schutz gegenüber Zumutungen der Partei. Die meisten Bibliothekare haben ihr gesamtes Berufsleben die Stelle nicht mehr gewechselt und wechseln wollen. Dieses Gefühl des Verankertseins in der Geschichte war im Westen nicht in gleicher Weise vorhanden, weil man ja nicht am historischen Ort angesiedelt war. Außerdem verfügte man nur über den Teil der alten Bestände, die 1949 zunächst unter der Bezeichnung „Westdeutsche Bibliothek“ in Marburg/L. zusammengeführt worden waren. Das war nach meiner Wahrnehmung ein Unterschied in der Selbstwahrnehmung.

Gibt es heute noch Mentalitätsunterschiede zwischen Bibliothekaren in Ost und West?

Ich glaube, heute stehen andere Probleme im Vordergrund. Das gilt spätestens seit 2021, als die Sanierung des Hauses Unter den Linden abgeschlossen wurde.

Gab es Einrichtungen in der Staatsbibliothek-Ost, die der Vereinigung zum Opfer gefallen sind, die Sie aber gerne fortgeführt gesehen hätten?

Der gesellschaftswissenschaftlichen Beratungsstelle, dem Sperrmagazin oder der bibliothekseigenen Verkaufsstelle für Lebensmittel trauern wir nicht nach. Eine gute Einrichtung zu DDR-Zeiten waren die Qualifizierungsmaßnahmen und speziell das Fernstudium. So gab es Mitarbeiter, die sich vom Lehrling bis zum Abteilungsleiter hocharbeiten konnten – ohne das Anstellungsverhältnis an der Staatsbibliothek aufzugeben. Ich selber konnte auf diese Weise meine Promotion in Geschichte abschließen. Ich hatte einen bestimmten Nachlass in der Handschriftenabteilung erschlossen und daraufhin einen Promotionsvertrag erhalten, der es mir ermöglichte, an Veranstaltungen der Universität teilzunehmen, einen Studientag pro Monat sowie eine bestimmte Zeit für die Fertigstellung der Dissertation zu bekommen, die auf diesen Nachlass bezogen war.

Ansicht der Deutschen Staatsbibliothek Berlin mit den 1987 fertiggestellten Büchertürmen im Hintergrund. Foto: Deutsche Staatsbibliothek

Das war dann doch eine sinnvolle Maßnahme der Personalentwicklung. Ich habe den Eindruck, dass der Transformationsprozess in den wissenschaftlichen Bibliotheken während der 1990er Jahre, alles in allem, ziemlich glücklich verlaufen ist. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Ich habe nach Richard Landwehrmeyer Antonius Jammers als Generaldirektor erlebt. Jammers hatte als früherer Ministerialbeamter in Nordrhein-Westfalen eine führende Rolle bei der Vereinigung der Bibliotheken gespielt. Wenn er von seinen Reisen in die ehemaligen DDR-Bibliotheken erzählt hat, hat er das immer mit großem Respekt für die Leistungen der DDR-Kollegen getan. Er war nicht der Typ, der mit dem Anspruch auftrat, jetzt müsse alles nach westlicher Fasson verändert werden. Daher teile ich Ihren Eindruck, dass es bei den wissenschaftlichen Bibliotheken viel besser gelaufen ist als bei den Universitäten oder der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Auch für die Staatsbibliothek?

Es hat Verwerfungen gegeben. Doch die große Welle von Personalentlassungen ist ausgeblieben. Ja, im Endergebnis war es eine rundum positive Entwicklung.

Schluss


Zum Thema: Michael Knoche, Eine friedliche Revolution. Wenn Helmut Kohls Prophezeiung »blühender Landschaften« je eingetroffen ist, dann auf dem Feld der wissenschaftlichen Bibliotheken der vormaligen DDR, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.9.2024, S. 6.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Michael Knoche (7. Oktober 2024). Die große Welle von Personalentlassungen ist ausgeblieben – Gespräch mit Daniela Lülfing, der ehemaligen Direktorin des Hauses Unter den Linden der Berliner Staatsbibliothek (2/2). Aus der Forschungs­bibliothek Krekelborn. Abgerufen am 19. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/12fii


Michael Knoche

Michael Knoche war von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Zu den Buchveröffentlichungen gehört: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft (Göttingen: Wallstein 2018). Persönliche Website: https://www.knoche-weimar.de/

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